Flohsamen zum Glück...
- Annatina Escher Koromzay
- 7. Aug.
- 5 Min. Lesezeit
Vor einiger Zeit war in einer meiner Lieblings Talk Sendungen “Focus“ Nina Ruge zu Gast. Sie erinnern sich: Leute heute auf zdf, über 10 Jahre lang immer mit dem Schlusssatz “Alles wird gut“ (warum auch immer, vielleicht war es Ausdruck des restlichen Quäntchen Zuversicht, das ihr nach Verkünden der drögen Promi-News noch blieb). Aber das ist kalter Kaffee, Frau Ruge hat sich jetzt zur Longevity-Expertin ernannt und schon eine Menge Bücher zum Thema verfasst. Eins mit dem Titel: Altern wird heilbar. - Da stehen mir bereits mehrfach die Haare zu Berge, aber im Talk ging es noch höher zu und her - also der Reihe nach:
Klipp und klar erklärt Frau Ruge auf eine Frage der Interviewerin: “Ja, du bist verantwortlich für deine Gesundheit.“ Den Einwand, ob das nicht doch etwas hart sei, dass man diese Verantwortung haben soll, wird mit einem herzlichen Lachen und der Bemerkung “man muss doch nicht alles so schwarz-weiß sehen“ abgetan. Ach so, ja dann... Ich weiß nicht mehr, wer es war, der diese Fehlentwicklung von Selbstverantwortung “unbarmherzig“ genannt hat. Du hast einen Tumor? - Ja hättest du mal regelmäßiger Flohsamen gegessen… Empathiefreie Zone, aber nicht nur das. Weil, das sei nur am Rande erwähnt, da wird das Thema auch hoch politisch! Jeder selber schuld, und wer das Gesundheitswesen überlastet, soll nix mehr bekommen. Hießen die Dinger nicht eigentlich Sozialversicherungen…?
Zurück zum Interview. Frau Ruge hat sich mit Hormonen, Botenstoffen, Nahrungsergänzungsmitteln, mit der “Intelligenz unseres Organismus“ auseinandergesetzt, das Wort “wissenschaftlich“ kommt inflationär oft vor (es ist zu hoffen, dass diese Wiederholung nicht altershalber aus Vergesslichkeit passiert…) sie setzt alles auf “gesunde Langlebigkeit“. Klingt gut. Sie geht also mit ihrem jungen Hund joggen, also nicht joggen wegen der Knie, da hat sie Arthrose (…etwas auf der Zu-Vermeiden-Liste, aber je nun, schon zu spät), ja, klar bergauf und bergab, in der Natur, also: sie empfiehlt uns Spaziergänge, täglich Sport, gesunde Ernährung, gesunden Schlaf. Breaking News oder schon mal gehört? Und dazu muss man sich in die Wissenschaft vertiefen, verstehen, “wer das Hirn rausputzt“ und wann die das tun - im Tiefschlaf - ergo muss ich schauen, dass ich genug Tiefschlaf habe (so verschmutzt wie mein Hirn wahrscheinlich ist). Das wiederum kann ich mit einem “Wearable“ tun. Frau Ruge selbst trägt eine Tracking-Uhr, ein Armband und einen Ring, die ihre ganzen Werte genauestens aufzeichnen (es ist zu hoffen, dass die Daten der drei Gadgets übereinstimmen, sonst würde das die Maßnahmenplanung um vieles komplexer machen). Und mit den Wearables findet sie unter anderem heraus, dass sie mehr Tiefschlaf hat, wenn sie vor Mitternacht ins Bett geht (das wusste schon meine Mutter, die war aber nicht wissenschaftlich, man nannte das Lebenserfahrung), wenig Kohlehydrate esse und keinen Zucker (von Alkohol wollen wir gar nicht reden, aber wie Horst Evers in “Zu doof zum Schlafen“ ungefähr sagt: „Die sagen mir für guten Schlaf soll ich abends keinen Alkohol trinken - aber wann soll ich ihn denn sonst trinken?“). Das Glas Wein, sagt Frau Ruge (notabene vom eigenen Weingut in der Toskana… die Frau lässt echt kein Klischee aus), das gönne sie sich, das sei “ihre Sünde“. Sünde. Aber nein, verstehen Sie das nicht falsch, das ist alles sehr lustvoll. Die Interviewerin fragt zögerlich nach, ob man denn wirklich keine Party mehr besuchen solle, nur um gesund alt zu werden - da meint Frau Ruge, erneut mit kehligem Lachen: “Doch, natürlich, aber wenn ich doch weiß welche Hormone im Tiefschlaf wirken ist das doch eine prima Motivation“. Naja, meine Motivation ist, am Morgen ausgeruht aufzuwachen, nicht bleich und augenberingt durch die Gegend zu wackeln, mit Kraft durch den Tag zu kommen. An die Hormone, die im Tiefschlaf wirken, denke ich da eher weniger.
Aber es kommt noch besser. Den Einwand, dass ein solcher Lebensstil zeitlich und vor allem auch finanziell aufwendig sei, lässt sie nicht gelten, im Gegenteil, das bringt sie ganz unwissenschaftlich “auf die Palme, das stimmt einfach nicht.“ Es gehe ja auch darum Sinn zu finden und “wenn ich diesen Sinn positiv lebe ist das ein Langlebigkeitselixier.“ Nun gut: Nicht alle Menschen haben das Privileg, ihren Fokus auf die Sinnfindung richten zu können, und von denen die es können, ist es auch nicht allen vergönnt diesen Sinn positiv zu leben (a apropos: kann man Sinn eigentlich auch negativ leben?). Sich vertieft mit einem Thema auseinanderzusetzen braucht Zeit, und man muss das, was man da liest auch verstehen, die Nahrungsergänzungsmittel (von denen Frau Ruge offenbar einige konsumiert) kosten, einen Hund kann sich auch nicht jeder leisten, auch nicht Biogemüse und ein Weingut in der Toskana für die Sünde schon gar nicht. Was hier postuliert wird, kommt vom ganz weit her - aus einer sehr privilegierten Position, superprivilegiert sogar, finanziell genauso wie bezüglich Bildungsstand, bezüglich Freizeit haben, bezüglich sorglos sich etwas hingeben können, Kapazität für irgendwas haben. Das ist weit, weit von der Realität der meisten Menschen entfernt, die tagsüber arbeiten und abends von einem Rudel Kinderchen erwartet werden. Sind die dann alle selber schuld, wenn sie mal krank werden? Meritokratie im Gesundheitswesen? Pech gehabt, halt?!
Bescheidenheit angesichts der eigenen Privilegiertheit - positiv gelebt - wäre auch ein Elixier!
Der Höhepunkt des Gesprächs ist der Satz “Ich werde sterben und bin damit einverstanden…aber ich habe viele Menschen leiden sehen … und das akzeptiere ich nicht, …“. Da werden die verantwortlichen Sensenmänner doch froh sein, dass Frau Ruge wenigstens mit dem Tod d’accord ist, wenn schon nicht mit dem Leiden.
Verstehen Sie mich nicht falsch: ich bin sehr dafür, ein gesundes Leben zu führen, aber ich mag das Leben und will es auch genießen. Das ist auch ein Lebenselixier! Und ein Privileg. Und zum Genießen gehört Selbstwahrnehmung, Selbsterfahrung, für sich herauszufinden (immer wieder) was guttut, was nicht. Und wie wärs, die sattsam bekannten Lebensstilveränderungen (mehr Bewegung, gesund essen, ausreichend schlafen, nicht Rauchen, nicht/wenig Alkohol etc.) ernsthaft auszuprobieren? Die kannten schon unsere Vorfahren, dafür braucht es keine Laboranalysen… das Wearable kann durchaus hilfreich sein für einen Abgleich, aber viel sinnvoller ist es, zwischendurch mal innezuhalten, auf das nonstop Feedback zu achten, das uns unser Leib liefert - real time pure Biofeedback sozusagen, ohne Maschinen und kostenlos. Ich bin - auch auf der Basis meiner Arbeit und Berufserfahrung - überzeugt, dass unsere Zeit besser investiert ist, wenn wir uns in Selbstwahrnehmung üben, kleine, aber effektive Veränderungen, die in den Alltag passen ausprobieren und uns so immer besser kennen lernen. Uns auch im Leiden besser kennen lernen, unpopulär, gehört aber irgendwie dazu. Weit besser als unser Leben mit dem Vermeiden von Ungemach und dem Nicht.-Akzeptieren der Vergänglichkeit zu verbringen! Jack London brachte es auf den Punkt:
“The proper function of man is to live, not to exist. I shall not waste my days in trying to prolong them. I shall use my time.“[1]
Und zum Schluss - einfach, damit meine Haare nicht mehr zu Berge stehen (weil Stress, Cortisol, HRV… und gutes Aussehen): “Altern wird heilbar“ - Bullshit, mit Verlaub. Weil, ohne das Altern romantisieren zu wollen: Altern ist keine Krankheit.
Nota Bene: Die Rolle der bemerkenswert kritiklosen Interviewerin wäre dann nochmals einen eigenen Text wert.
Lesen!
Im Sinne von “Lachen ist ein Lebenselixier“:
Evers, Horst: Zu faul zum Nichtstun, Geschichten, ISBN 978-3-7371-0211-7 (mit u.a. der zitierten Geschichte Zu doof zum Schlafen)
[1] London, Jack (1903): The call of the wild
